Leseprobe I "Der Rinnsteinfischer"

Schaut in mein vor Leidenschaft zerfurchtes Gesicht,
Es liegt mein Herz im Kopf,
erschreckt euch nicht.

Kapitel 1

Die sperrige Staffelei, mit der daran angebundenen Palette,
schliff über den Boden. Siegi wurden die Arme schwer und ihm
war, als wenn die gleißende Sonne seine Gliedmaßen noch mehr
in die Länge zöge. Dreimal waren sie von den Stuttgarter
„Schanddarmen*“, wie Hannes immer sagte, schon verscheucht
worden; doch heute war es schlimmer als sonst. Aber so kurz
nach den „Ersten-Mai-Unruhen“, hätten sie sich das
eigentlich denken können.
Hannes trug den vorbereiteten Malkarton, dessen Farbe noch
nicht richtig trocken war, achtsam aufgestellt wie ein
Schild vor sich her; über dem einen Arm schlenkerte eine
abgewetzte Militärtasche, die bei jedem Schritt leise mit
Siegis Klampfe am breiten Band über Hannes anderem Arm
zusammenschlug. Ganze dreißig Pfennige hatten sie bislang
verdient – doch man sollte die Hoffnung ja nie aufgeben.
Vor den Aushangkästen einer Tageszeitung waberte eine
unförmige Menschentraube. Während graue Schatten einander
bei den Stellenanzeigen in Fünferreihen auf den Füßen
herumtraten und gierig drängelnd einzelne Buchstaben zu
erhaschen suchten, fanden die tagespolitischen Seiten
weitaus weniger Zulauf. In übergroßen Lettern drangen dort
die reißerischen Schlagzeilen in die Köpfe der Leser vor:
„33 Tote bei Mai-Unruhen in Berlin“,- „Die Blutschuld der
Kommunisten“,- „Moskau braucht Leichen“,- „Der Louis als

Demonstrant.“
Keiner regte sich darüber auf, niemand schmiss die Scheiben
ein oder riss gar das gemeine Schandblatt heraus; ein jeder
nahm das Geschreibsel für bare Münze, weiter begierig in
Richtung Stellenannoncen schielend, ob nicht doch endlich
ein kleines Plätzchen frei geworden war.
Der Maler Hannes und Siegi der Musikant schwenkten auf
einen freien Platz ein. Siegi, der ein paar Schritte vor
Hannes gegangen war, bemerkte nicht, dass sein Freund vor
einer Litfaßsäule unvermittelt stehen geblieben war und
schlurfte weiter seinen behäbigen Trott. Bis Siegi bemerkte,
dass Hannes nicht mehr hinter ihm war, dauerte es eine
Weile.
Im selben Tempo wie er gekommen war, schlenkerte Siegi den
Weg zurück und fand seinen „Tippelfreund*“ Hannes völlig
verändert vor. Mit glänzenden Augen starrte Hannes auf eine
bestimmte Stelle der Litfaßsäule und dann geschah, was Siegi
nie für möglich gehalten hätte: Hannes lächelte.
Noch nie hatte er Hannes lächeln gesehen – es wurde ihm
offenbar zeitig abgewöhnt, - zuerst als Kind, im qualmigen
Ruhr-Kohlenpott und dann unter Tage im Bergwerk. Es sah auch
irgendwie verkehrt aus dieses Lächeln. Ein Kopf mit tief in
den Höhlen liegenden Augen, ein Totenschädel, lächelte.
Langsam hob Hannes den Arm und deutete mit dem Finger auf
ein schlecht geklebtes Plakat.
„Das ist meine Litfaßsäule, da steht mein Name drauf“; eng
wie an eine Frau kuschelte sich Hannes an die Säule
„Lies vor, Hannes, lies vor“, bat Siegi, obschon er genau
wusste, was auf dem Plakat stand, zumal er es selbst dorthin

geklebt hatte.
„Kunsthaus Hirrlinger, Eröffnung der Vagabundenkunstausstellung am 21. Mai um 10 Uhr
Veranstalter: Bruderschaft der Vagabunden, Schriftführer
Gregor Gog.
Ausstellende Künstler: Max Ackermann, Gerhart Bettermann,
Hans Tombrock und Otto Heim.
Rezitation: Vagabunden-Lieder von Gerhart Sigismund, genannt
Siegi.“
Jetzt lächelte auch Siegi. Er lehnte Hannes Staffelei an
die Litfaßsäule an, zog eine zerknautschte Mütze aus der
Hosentasche und legte sie vor sich auf den Boden. Schnell
hängte er sich bummernd die Klampfe um und sang schief, aber
voller Inbrunst:

DAS LIED VON MUTTER GRÜN
„Bei Mutter Grün liegt die Sache ganz einfach,
Bei Mutter Grün gibt es alles umsonst;
Wenn du bei Mutter Grün wohnst.
Uns als deinen uneh’lichen Kindern,
Bietest du als Erbschaft Schnee und Eis,
Bei dir leben ist zwar nicht gesünder;
Im Winter ist es kalt, im Sommer ist es heiß.
Bei dir gibt’s Wanzen, Dreck und Läuse,
Ameisen haufenweis’ und Mäuse.
Doch du gibst uns die Freiheit,
Unsrer Wege zu gehen,
Achtest nicht auf die Kargheit,
In der wir vor dir stehen.
Zu Mutter Grün geht’s hier durch den Wald.
Bei Mutter Grün werden wir alt.“


Leseprobe II

Hannes lächelte nicht mehr. Stattdessen betrachtete er sein
Bild. Doch schon war er mit seinen Gedanken wieder ganz
woanders: Was wohl nach der Ausstellungseröffnung in der
Zeitung stehen würde? „Könner in Lumpen“, oder „Kunst aus
dem Rinnstein“, oder..? Ihm wäre wohl noch vieles
eingefallen, doch dann fragte er sich, ob sie wohl überhaupt
einen Rezensenten schicken würden und stellte die grundierte
Pappe auf die Staffelei.
Hannes öffnete seine abgegriffene Tasche und entnahm ihr
Palette, Farben, Pinsel und einen winzigen Klapphocker.
Während er seine Farben auf der Palette anrührte, dachte
Hannes daran, wem er das Ganze letztlich zu verdanken hatte.
Erst gestern hatte Gregor noch zu ihm gesagt: „Quassel’
nich’ so ville, Hannes, male!“, und hatte ihn einfach stehen
lassen.

Früher hatte Hannes seine „Mennecken*“ für ein paar
Groschen, einen Teller Suppe oder ein Butterbrot gemalt;
meist auf Karton oder Papier, das er akribisch sammelte und
hütete wie einen wertvollen Schatz. Anfangs mit Kohle oder
Bleistift skizziert, nahmen seine Mennecken dann im Laufe
der Jahre immer konkretere Formen an. Schließlich waren
sogar teure Leinwandmalereien entstanden; die Mennecken
jedoch blieben immer was sie waren: Armselige kleine
Menschlein – Elendsgestalten.
Hannes setzte sich, die Palette in der Linken haltend wie
eine Trophäe, vor den grundierten Malkarton und starrte ihn
an. Minuten verstrichen, Hannes rührte sich nicht. Nur wenn man es verstand, in seinen Augen zu lesen, konnte man etwas
von dem unbedingten Willen seiner Schaffenskraft verspüren,
deren Drangsal wie winzige Glühwürmchen ab und an aus seinen
Augen hervor sprühte.

Doch im Gegensatz zu anderen Malern, denen der Schöpfungsakt irgendeine Form von Genuss bereiten mochte, litt Hannes dabei Höllenqualen. Als „Flagellant der Rinnsteinkunst*“ hatte er sich selbst einmal bezeichnet. Er
vergesse dabei Zeit und Raum und immer befände er sich in
einer dunklen Höhle, stolpere über halb verfaulte Skelette,
Schutt –und Geröllmassen, krieche durch engste Steinschlünde, klettere zittrig über erhabene
Felsvorsprünge, deren schroffe Absplitterungen hunderte
Meter in die Tiefe rasten, wate durch eiskaltes Wasser und
bewege sich mühsam auf einen kleinen Lichtpunkt in der Ferne
zu. Erst wenn er diesen Lichtpunkt erreicht habe, sehe er das fertige Bild vor sich und könne malen.
Plötzlich kam Bewegung in das bleiche Antlitz. Wie in den
Wehen krümmte sich Hannes auf seinem Höckerchen zusammen,
raufte sich die Haare und stöhnte entsetzlich. Gequollen
traten die Adern an seinen Schläfen hervor und bildeten
bläuliche Gebirgsketten.